„Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ – Zu diesem Thema habe ich eine kleine Nachrichtenmagazingeschichte verfasst. Es dreht sich also nicht direkt um Apple oder bestimmte iDevices, sondern eher um das Nutzungsverhalten der jüngeren Generation. Einschließlich mir natürlich. Der Text ist ein Erklärungsversuch, die die Frage „Was machen die sozialen Medien mit uns?“ etwas erläutern soll. Mir ist zudem bewusst, dass sich nicht die ganze Generation durch die beschriebenen Eigenschaften zusammenfassen lässt. Achtung: nun folgt ein längerer Text.
Generation zweites Ich
Das neue Profilbild wird voller Erwartung dem Publikum präsentiert, doch als es nach einer halben Stunde immer noch keine zehn Daumen gab, löscht Lisa-Marie ihr Bild wieder.
Es ist die Suche nach Anerkennung und Aufmerksamkeit. Jeden Tag machen sich Millionen von Jugendlichen auf die Suche. Egal ob bei Facebook oder Instagram. Statusmeldungen, Videos, Fotos – alle Kanäle werden ausgereizt um auf der virtuellen Bühne gut dazustehen. Von jedem einzelnen ist deshalb die Schokoladenseite gefragt. Auch von Lisa-Marie. Das weiß die 18-jährige Schüle- rin, weswegen sie auch ihr neues Profilbild unter hunderten von gemachten Fotos aussuchte. Sie stand draußen in der Sonne, zuhause vor dem heimischen Badezimmerspiegel, aber schlussendlich wollte sie sich ihren über tausend Verbindungen, im Zug mit ihrer besten Freundin zeigen. Dazu noch ein ausgewähltes Zitat über die Freundschaft und schon prangert ihr neues, altes Antlitz auf ihrer Bühnenfigur.
Zugegeben: ich muss ein kleiner Marketingstratege sein, um mich abzuheben. Das Podium ist riesig und der Scheinwerfer hat viele, sehr viele Möglichkeiten, jemand anderes in den Vordergrund zu heben. Ich muss also besonders sein. Besonderer als alle anderen. Das Problem ist nur, dass mein wahres Ich, vielleicht gar kein Publikumsliebling ist. Vielleicht werde ich ja von der Bühne verjagt oder noch schlimmer: es bemerkt mich ganz einfach niemand. Wer will außerdem meine Launenhaftigkeit mitbekommen, oder erfahren, dass ich ziemlich ungeduldig sein kann?
Alexander ist 20 Jahre alt und studiert seit letztem Winter. Ihm ist es recht egal, wie viele Gefällt mir-Angaben er bekommt. Er äußert sich zur aktuellen Finanzlage oder kommentiert den neu erschienenen Klimareport auf seiner Facebookpinnwand. „Ich finde es lustig, dass ein banales Katzenfoto (das mittlerweile zwölfte) anscheinend mehr Aufmerksamkeit bekommt, als wichtigere Dinge. Likes und sonstiges Zeug interessieren mich nicht. Solange es mindestens eine Person gibt, die meine Sachen liest und darüber nachdenkt, lohnt sich der Aufwand für mich.“
Alex scheint ohne zweites Ich auszukommen. Aber er ist einer von mehr als 300 Leuten mit denen ich befreundet bin. Wer weiß, ob er nicht genauso launisch und ungeduldig ist, wie ich? Das Internet, insbesondere Facebook bietet eine Bühne. Auf diese Bühne müssen Schauspieler, deren Berufung es ist, eine andere Rolle anzunehmen und sie so glaubwürdig wie möglich zu verkörpern. Womöglich sitzen im Publikum die Eltern, der Chef, die Exfreundin, der Vermieter und andere Leute, an die man gar nicht denkt. Wo könnte man sich also nicht besser verkaufen als hier? Alex könnte ebenso ein Schauspieler sein – halt ein sehr guter Dartseller.
Unsere Generation führt ein Doppelleben – eines wo sie sind, wie sie sind und ein anderes, wo sie vorgeben jemand anderes zu sein. Diese Generation ist jedoch nicht anders als irgendeine zuvor. Die Andersartigkeit liegt in der Form. Heute passiert und geschieht alles öffentlich. Man öffnet die Instagram-App und kiloweise flimmern die Gerichte über das Display. Natürlich wird ein Bild vom Chateaubriand mit Speckbohnen, Macaire-Kartoffeln und Sauce Béarnaise gezeigt. Es ist völlig egal, ob es eigentlich geschmeckt hat oder nicht. Bei Facebook lädt Felix ein Bild von seiner durchmachten Partynacht des neueröffneten Clubs hoch. Ob es wirklich spaßig war, oder er Kopfschmerzen hatte und nach einer Stunde seine ganzen Freunde verlor, ist nebensächlich. Die Botschaft ist das Entscheidende. Und diese ist positiv, denn ihr Leben selbst scheint toll zu sein. Ansonsten würden sie es mir nicht zeigen. Oder?
Es geht aber viel mehr als nur um die eindimensionale und stumpfe Aussage, dass ihr Leben toll ist. Jeder Mensch versucht möglichst viel Anerkennung zu ernten. Egal ob das vor 100, 50 oder 10 Jahren war. Die Bestätigung anderer Menschen, am besten noch von Gleichgesinnten, hilft einem weiterzumachen. Nämlich genau mit dem, was man tut. Allerdings schiebt man ein verbessertes, optimiertes und glatteres Ich auf die Bühne. Wer findet es nicht beeindruckend, jetzt auf den Malediven am Strand zu liegen? Über hundert Daumen bekommt Sarah für ihr Bild. Die Bestätigung der Leute, dass sie angesagt ist, tut natürlich gut. Aber wer bekommt den Applaus des Publikums? Sie, Sarah, mit dem Pickelchen auf der Stirn, der fünf in Mathe und den Problemen mit den Eltern oder die Sarah, die lustige Katzenfotos auf Instagram hochlädt und jedes Wochenende auf Facebook ein Partyvideo veröffentlicht?
Die Anerkennung ist im jetzigen Zeitalter einfacher und schneller zu ver- dienen als je zuvor. Es bedarf keinem persönlichen Gespräch mehr, sondern ein einfacher Klick reicht. „Gefällt mir“. Gefährlich wird es, wenn man quasi selbst ein Teil des Publikums wird und durch die Augen der anderen schaut, um wissen zu wollen, was ihnen gefällt. Man handelt nicht aus eigenem Willen, weil einem das gefällt, was man macht, sondern nur, weil es den anderen gefallen könnte. Möglicherweise kommt noch hinzu, dass man sich nicht nur für Freunde sondern auch Fremde inszeniert, da man nicht jeden seiner 500 „Freunde“ kennt. Stößt man dann auf Zustimmung, Bestätigung und Anerkennung, bleibt man gefangen. In einer Spirale, die sich immer weiter von dem eigentlichen Ich dreht. Denn gerade im jugendlichen Alter, in der Pubertät ist man auf der Suche nach seinem Ich. Die komplette Persönlichkeitsfindung läuft über ein zweites Ich, was durch fremde Zustimmung aufgebaut wird. Die Bühnenfigur verdrängt dadurch immer mehr das eigentliche Ich. Einziges Problem dabei: es gibt noch ein Leben außerhalb des Internets.
Während man sich damals, abends in der Pizzeria oder zuhause im heimischen Garten traf und unter dem lauen Sternenhimmel schwelgte, wie gerne man doch anders wäre und was man alles erreichen möchte, verhält es sich heute konträr. Ich brauche kein Gespräch zu führen um zu erfahren, wie jemand gerne wäre. Da reicht der schnelle Blick ins Internet. Doch das persönliche Tref- fen, das intime Gespräch ist heute nicht minderwichtig. Im Gegenteil: es ist wichtiger geworden, denn dort treten keine zweiten Ichs mehr auf. Wir befinden uns hinter den Kulissen. Fernab von jeglichem Publikum. Plötzlich sitzt ein Mensch vor mir, der Ecken und Kanten hat und nicht glatt wie eine Eisfläche ist. Das Verschweigen von möglichen Schwächen ist fast ausgeschlossen. Ich er- fahre, wer der 17-jährige Lucas wirklich ist.
Vielleicht sollten wir nicht mehr so oft auftreten. Vielleicht sollten wir öfter von der Bühne kommen und das Theater verlassen. Zum Glück gibt es neben dem Theater noch so viele weitere Möglichkeiten. Warum sollte man beim Eisessen nicht mal das Handy in der Tasche lassen und kein Foto von dem riesigen Eisbecher machen? Das Publikum ist doch absolut nebensächlich, wenn man mit wirklichen Freunden unterwegs ist. Die Inszenierung für Fremde, für ein gesichtsloses Publikum ist nichts wert. Denn die Sitze im Theater werden nicht von Leuten besetzt, die man morgens müde beim Bäcker oder abends betrunken in der Kneipe sieht. Nein, man hampelt für vorgeschobene, zweite Ichs, die allesamt perfekt scheinen. Einziger Wermutstropfen: jeder betritt mal früher oder später die Bühne.